M1: Immanuel Kant: Handeln aus Pflicht – Was macht einen guten Willen aus?
Nachdem Kant dargelegt hat, dass es für die moralische Bewertung einer Handlung nicht auf die Handlungsfolgen ankommt, sondern auf den guten Willen (nur dieser ist nach Kant uneingeschränkt gut), untersucht er in ei-nem zweiten Schritt, was eigentlich einen guten Willen ausmacht. Zentral ist dabei der Begriff der Pflicht (griech. to déon = wozu jemand verpflichtet ist), weshalb Kants Ethik auch als Pflichtethik oder deontologische Ethik bezeich-net wird.
Um aber den Begriff eines an sich selbst hochzuschätzenden und ohne weitere Absicht guten Willens, (...) zu entwickeln, wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen. (...)
Ich übergehe hier alle Handlungen, die schon als pflichtwidrig erkannt wer-den, ob sie gleich in dieser oder jener Absicht nützlich sein mögen; denn bei denen ist gar nicht einmal die Frage, ob sie aus Pflicht geschehen sein mögen, da sie dieser sogar widerstreiten. Ich setze auch die Handlungen beiseite, die wirklich pflichtmäßig sind, zu denen aber Menschen unmittel-bar keine Neigung haben, sie aber dennoch ausüben, weil sie durch eine andere Neigung dazu getrieben werden. Denn da lässt sich leicht unter-scheiden, ob die pflichtmäßige Handlung aus Pflicht oder aus selbstsüch-tiger Absicht geschehen sei.
Weit schwerer ist dieser Unterschied zu bemerken, wo die Handlung pflicht-mäßig ist und das Subjekt noch überdem unmittelbare Neigung zu ihr hat. Zum Beispiel ist es allerdings pflichtmäßig, dass der Krämer seinen uner-fahrenen Käufer nicht überteuere, und, wo viel Verkehr ist, tut dieses auch der kluge Kaufmann nicht, sondern hält einen festgesetzten allgemeinen Preis für jedermann, so dass ein Kind ebenso gut bei ihm kauft wie jeder andere. Man wird also ehrlich bedient; allein das ist lange nicht genug, um deswegen zu glauben, der Kaufmann habe aus Pflicht und Grundsätzen der Ehrlichkeit so verfahren; sein Vorteil erforderte es; dass er aber überdem noch eine unmittelbare Neigung zu den Käufern haben sollte, um gleichsam aus Liebe keinem vor dem anderen im Preise den Vorzug zu geben, lässt sich hier nicht annehmen. Also war die Handlung weder aus Pflicht noch aus unmittelbarer Neigung, sondern bloß in eigennütziger Absicht geschehen. (...)
Wohltätig sein, wo man kann, ist Pflicht, und überdem gibt es manche so teilnehmend gestimmte Seelen, dass sie auch ohne einen andern Bewe-gungsgrund der Eitelkeit oder des Eigennutzes ein inneres Vergnügen daran finden, Freude um sich zu verbreiten, und die sich an der Zufriedenheit anderer, sofern sie ihr Werk ist, ergötzen können. Aber ich behaupte, dass in solchem Falle dergleichen Handlung, so pflichtmäßig, so liebenswürdig sie auch ist, dennoch keinen wahren sittlichen Wert habe (…); denn der Maxime fehlt der sittliche Gehalt, nämlich solche Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht zu tun.
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pflichtmäßig=pflichtgemäß; Neigung= Interesse, Sympathie zu etwas, Hang zu etwas; überdem= außerdem
Gesetzt also, das Gemüt (…) (eines) Menschenfreundes wäre vom eigenen Gram umwölkt, der alle Teilnehmung an anderer Schicksal auslöscht, er hätte immer noch Vermögen, andern Notleidenden wohlzutun, aber fremde Not rührte ihn nicht, weil er mit seiner eigenen genug beschäftigt ist, und nun, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch aus dieser tödlichen Unempfindlichkeit heraus und täte die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdann hat sie allererst ihren echten moralischen Wert. (…)
So sind ohne Zweifel auch die Schriftstellen (im neuen Testament) zu verste-hen, darin geboten wird, seinen Nächsten, selbst unsern Feind zu lieben. Denn Liebe aus Neigung kann nicht geboten werden, aber Wohltun aus Pflicht, selbst, wenn dazu gar keine Neigung treibt, ja gar natürliche und unbezwingliche Abneigung widersteht, ist praktische (…) Liebe, die im Willen liegt und nicht im Hange der Empfindung (…); jene aber allein kann geboten werden. (…) Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung, welche bloß als Bewusstsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetze ohne Vermittlung anderer Einflüsse auf meinen Sinn bedeutet. Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewusstsein derselben heißt Achtung. (…) Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
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sittlich= hier zu verstehen als „moralisch“; Maxime = subjektiver Handlungsgrundsatz
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