• Kunstmärchen
  • anonym
  • 30.06.2020
  • Allgemeine Hochschulreife
  • Deutsch
  • 8
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Das klei­ne Mäd­chen mit den Schwe­fel­höl­zern

von Hans Chris­ti­an An­der­sen

Es war so gräss­lich kalt; es schnei­te und es be­gann dunk­ler Abend zu wer­den. Es war auch der letz­te Abend des Jah­res, Sil­ves­ter­abend. In die­ser Kälte und in die­ser Dun­kel­heit ging auf der Stra­ße ein klei­nes, armes Mäd­chen mit blo­ßem Kopf und nack­ten Füßen; ja, sie hatte zwar Pan­tof­feln an­ge­habt, als sie von Hause weg­ging, aber was nütz­te das schon! Es waren sehr große Pan­tof­feln, ihre Mut­ter hatte sie zu­letzt be­nutzt, so groß waren sie, und die ver­lor die Klei­ne, als sie über die Stra­ße eilte, wäh­rend zwei Wagen so er­schre­ckend schnell vor­bei­fuh­ren. Der eine Pan­tof­fel war nicht zu fin­den, und mit dem an­dern lief ein Knabe davon; er sagte, den könne er als Wiege brau­chen, wenn er selbst ein­mal Kin­der be­kom­me.

Da ging nun das klei­ne Mäd­chen auf den nack­ten, klei­nen Füßen, die vor Kälte rot und blau waren. In einer alten Schür­ze trug sie eine Menge Schwe­fel­höl­zer, und ein Bund hielt sie in der Hand. Nie­mand hatte ihr den gan­zen Tag hin­durch etwas ab­ge­kauft; nie­mand hatte ihr einen klei­nen Schil­ling ge­ge­ben. Hung­rig und ver­fro­ren ging sie dahin und sah so ein­ge­schüch­tert aus, die arme Klei­ne! Die Schnee­flo­cken fie­len in ihr lan­ges, blon­des Haar, das sich so schön um den Na­cken rin­gel­te, aber an diese Pracht dach­te sie wahr­lich nicht. Aus allen Fens­tern glänz­ten die Lich­ter, und dann roch es auf der Stra­ße so herr­lich nach Gän­se­bra­ten; es war ja Sil­ves­ter­abend, ja, daran dach­te sie!



Drü­ben in einem Win­kel zwi­schen zwei Häu­sern, von denen das eine etwas mehr vor­sprang als das an­de­re, dort setz­te sie sich hin und kau­er­te sich zu­sam­men. Die klei­nen Beine hatte sie unter sich hoch­ge­zo­gen; aber es fror sie noch mehr, und nach Hause zu gehen, wagte sie nicht. Sie hatte ja keine Schwe­fel­höl­zer ver­kauft, nicht einen ein­zi­gen Schil­ling be­kom­men. Ihr Vater würde sie schla­gen, und kalt war es zu Hause, sie hat­ten nur eben das Dach über sich, und da pfiff der Wind her­ein, ob­wohl in die größ­ten Spal­ten Stroh und Lum­pen ge­stopft waren. Ihre klei­nen Hände waren bei­na­he ganz ab­ge­stor­ben vor Kälte. Ach! Ein klei­nes Schwe­fel­hölz­chen könn­te gut­tun. Wenn sie es nur wagen würde, eines aus dem Bund zu zie­hen, es gegen die Wand zu strei­chen und die Fin­ger zu er­wär­men! Sie zog eins her­aus, rit­sch! Wie es sprüh­te, wie es brann­te! Es war eine warme, helle Flam­me, wie ein klei­nes Licht, als sie es mit der Hand um­schirm­te. Es war ein selt­sa­mes Licht: dem klei­nen Mäd­chen war es, als säße es vor einem gro­ßen, ei­ser­nen Ofen mit blan­ken Mes­sing­ku­geln und einem Mes­sing­rohr. Das Feuer brann­te so herr­lich, wärm­te so gut; nein, was war das! Die Klei­ne streck­te schon die Füße aus, um auch diese zu wär­men - da er­losch die Flam­me. Der Ofen ver­schwand, sie saß mit einem klei­nen Stück des ab­ge­brann­ten Schwe­fel­hölz­chens in der Hand.

Ein neues wurde an­ge­stri­chen, es brann­te, es leuch­te­te, und wo der Schein auf die Mauer fiel, wurde diese durch­sich­tig wie ein Schlei­er; sie sah ge­ra­de in die Stube hin­ein, wo der Tisch ge­deckt stand mit einem blen­dend­wei­ßen Tisch­tuch, mit fei­nem Por­zel­lan, und herr­lich dampf­te die ge­bra­te­ne Gans, ge­füllt mit Zwetsch­gen und Äp­feln; und was noch präch­ti­ger war: die Gans sprang von der Schüs­sel her­un­ter, wat­schel­te durch die Stube, mit Mes­ser und Gabel im Rü­cken; ge­ra­de auf das arme Mäd­chen kam sie zu. Da er­losch das Schwe­fel­holz, und es war nur die dicke, kalte Mauer zu sehen.



Die Klei­ne zün­de­te ein neues an. Da saß sie unter dem schöns­ten Weih­nachts­baum; er war noch grö­ßer und schö­ner ge­schmückt als der, den sie bei der letz­ten Weih­nacht durch die Glas­tür bei dem Kauf­mann ge­se­hen hatte. An den grü­nen Zwei­gen brann­ten tau­send Ker­zen, und bunte Bil­der, gleich denen, wel­che die Schau­fens­ter schmück­ten, sahen auf sie herab. Die Klei­ne streck­te beide Hände in die Höhe - da er­losch das Schwe­fel­holz; die vie­len Weih­nachts­lich­ter stie­gen höher und höher. Sie sah, jetzt waren sie zu den hel­len

einer von ihnen fiel und hin­ter­ließ einen lan­gen Feu­er­strei­fen am Him­mel. »Jetzt stirbt je­mand«, sagte die Klei­ne, denn die alte Groß­mutter, die ein­zi­ge, die gut zu ihr ge­we­sen, aber nun tot war, hatte ge­sagt: wenn ein Stern fällt, geht eine Seele hin­auf zu Gott.

Sie strich wie­der ein Schwe­fel­hölz­chen gegen die Mauer, es leuch­te­te rings­um­her, und in dem Glanz stand die alte Groß­mutter, so klar, so schim­mernd, so mild und lieb­lich.



»Groß­mutter«, rief die Klei­ne, »oh, nimm mich mit! Ich weiß, du bist fort, wenn das Schwe­fel­hölz­chen aus­geht, fort, eben­so wie der warme Ofen, der herr­li­che Gän­se­bra­ten und der große, ge­seg­ne­te Weih­nachts­baum!« Und sie strich has­tig den gan­zen Rest von Schwe­fel­höl­zern an, die im Bund waren. Sie woll­te Groß­mutter recht fest­hal­ten; und die Schwe­fel­höl­zer leuch­te­ten mit einem sol­chen Glanz, daß es hel­ler war als der lich­te Tag. Groß­mutter war frü­her nie so schön, so groß ge­we­sen; sie hob das klei­ne Mäd­chen auf ihren Arm, und sie flo­gen in Glanz und Freu­de so hoch, so hoch dahin; und dort war keine Kälte, kein Hun­ger, keine Angst, sie waren bei Gott.

Aber im Win­kel beim Hause saß in der kal­ten Mor­gen­stun­de das klei­ne Mäd­chen mit roten Wan­gen, mit einem Lä­cheln um den Mund - tot, er­fro­ren am letz­ten Abend des alten Jah­res. Der Neu­jahrs­mor­gen ging über der klei­nen Lei­che auf die mit den Schwe­fel­höl­zern da saß, von denen ein Bund fast ab­ge­brannt war. Sie hatte sich wär­men wol­len, sagte man. Nie­mand wuss­te, was sie Schö­nes ge­se­hen hatte und in wel­chem Glanz sie mit der alten Groß­mutter ein­ge­gan­gen war zur Neu­jahrs­freu­de.

1
Lies den Text und be­ar­bei­te fol­gen­de Auf­ga­ben:
  • In was für einer Si­tua­ti­on be­fin­det sich das Mäd­chen? Wel­che Grün­de sind dafür aus­schlag­ge­bend?
  • Halte in Stich­punk­ten fest, was das Mäd­chen sieht, wenn sie die Schwe­fel­höl­zer ent­zün­det und finde Über­schrif­ten für die ein­zel­nen Se­quen­zen.
  • Be­schrei­be die Ge­füh­le des Mäd­chens vor und wäh­rend des An­zün­dens der Schwe­fel­höl­zer an­hand von Ad­jek­ti­ven. In wel­cher Be­zie­hung ste­hen die Ad­jek­ti­ve zu­ein­an­der?
  • Wer trägt Schuld am Tod des Mäd­chens? Dis­ku­tiert.
2
Wie ist An­der­sen wohl auf diese Ge­schich­te ge­kom­men? Lies den Text im In­fo­kas­ten.

Als An­der­sen Kind war, lebte seine Fa­mi­lie in ärm­li­chen Ver­hält­nis­sen, er hatte daher Kälte und Hun­ger selbst er­lebt. Auch seine Mut­ter war be­reits in einer armen Fa­mi­li­en groß ge­wor­den. Sie er­zähl­te An­der­sen, dass sie in ihrer Kind­heit immer wie­der bei Kälte bet­teln gehen muss­te und sich oft nicht trau­te, nach Hause zu gehen, wenn sie kein Geld er­bet­telt hatte. Die­ses Mär­chen ent­stand als Auf­trags­ar­beit für einen Ver­le­ger. Die­ser zeig­te An­der­sen ver­schie­de­ne Bil­der, zu denen eine Ge­schich­te ent­ste­hen soll­te. Vor sei­nem per­sön­li­chen Hin­ter­grund ent­schied sich An­der­sen gleich für ein Bild, das ein klei­nes und of­fen­sicht­lich armes Mäd­chen in einer win­ter­li­chen Stra­ße zeig­te, beim Ver­such Schwe­fel­höl­zer zu ver­kau­fen.

3
Armut gibt es nicht nur in Ent­wick­lungs­län­dern (z. B. Län­der in Afri­ka), son­dern auch in Deutsch­land. Geht auf die Home­page http://www.armut.de/armut-​in-deutschland.php
  • Lest euch die 'Zah­len und Fak­ten' unter dem Punkt 'Kin­der­ar­mut in Deutsch­land' durch.
  • In­for­miert euch auch über die ver­schie­de­nen Arten von Armut unter dem Punkt 'Fol­gen der Armut in Deutsch­land' und über­legt, von wel­cher das Mäd­chen mit den Schwe­fel­höl­zern be­trof­fen sein könn­te.
  • Wann ist man eurer Mei­nung nach wirk­lich arm? Dis­ku­tiert.

Ihr wer­det es viel­leicht schon be­merkt haben...

Das klei­ne Mäd­chen mit den Schwe­fel­höl­zern ist kein ty­pi­sches Mär­chen. Es ge­hört zur Gat­tung der Kunst­mär­chen. Im Ge­gen­satz zu Volks­mär­chen, die über Jahr­hun­der­te münd­lich wei­ter er­zählt wur­den, stam­men Kunst­mär­chen von einem be­stimm­ten Autor und sind er­dacht und nie­der­ge­schrie­ben. Oft haben sie ein trau­ri­ges Ende. Be­kann­te Au­toren von Kunst­mär­chen sind etwa Hans Chris­ti­an An­der­sen, Wil­helm Hauff und Lud­wig Tieck.

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Du weißt jetzt über die wich­tigs­ten Mär­chen­merk­ma­le und über die Un­ter­schie­de zwi­schen einem Volks­mär­chen und einem Kunst­mär­chen Be­scheid.
Schrei­be Das klei­ne Mäd­chen mit den Schwe­fel­höl­zern so um, dass ein Volks­mär­chen dar­aus wird!
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