• Textsammlung Kurzgeschichten
  • anonym
  • 27.08.2024
  • Deutsch
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Mit­tags­pau­se   (Wolf Won­d­rat­schek)



Sie sitzt im Straßencafé. Sie schlägt so­fort die Beine über­ein­an­der.

Sie hat wenig Zeit. Sie blät­tert in einem Mo­de­jour­nal. Die El­tern wis­sen, dass sie schön ist. Sie sehen es nicht gern. Zum Bei­spiel. Sie hat Freun­de. Trotz­dem sagt sie nicht, das ist mein bes­ter Freund, wenn sie zu Hause einen Freund vor­stellt. Zum Bei­spiel. Die Män­ner la­chen und schau­en her­über und stel­len sich ihr Ge­sicht ohne Son­nen­bril­le vor.

Das Straßencafé ist über­füllt. Sie weiß genau, was sie will. Auch am Ne­ben­tisch sitzt ein Mäd­chen mit Bei­nen. Sie hasst Lip­pen­stift. Sie be­stellt einen Kaf­fee. Manch­mal denkt sie an Filme und denkt an Lie­bes­fil­me. Alles muss schnell gehen. Frei­tags reicht die Zeit um einen Ko­gnak zum Kaf­fee zu be­stel­len. Aber frei­tags reg­net es oft.

Mit einer Son­nen­bril­le ist es ein­fa­cher, nicht rot zu wer­den. Mit Zi­ga­ret­ten wäre es noch ein­fa­cher. Sie be­dau­ert, dass sie keine Lun­gen­zü­ge kann.

Die Mit­tags­pau­se ist ein Spiel­zeug. Wenn sie nicht an­ge­spro­chen wird, stellt sie sich vor, wie es wäre, wenn sie ein Mann an­spre­chen würde. Sie würde la­chen. Sie würde eine aus­wei­chen­de Ant­wort geben. Viel­leicht würde sie sagen, dass der Stuhl neben ihr be­setzt sei. Ges­tern wurde sie an­ge­spro­chen. Ges­tern war der Stuhl frei. Ges­tern war sie froh, dass in der Mit­tags­pau­se alles sehr schnell geht.

Beim Abend­essen spre­chen die El­tern davon, dass sie auch ein­mal jung waren. Vater sagt, er meine es nur gut. Mut­ter sagt sogar, sie habe ei­gent­lich Angst. Sie ant­wor­tet, die Mit­tags­pau­se ist un­ge­fähr­lich.

Sie hat mitt­ler­wei­le ge­lernt sich zu ent­schei­den. Sie ist ein Mäd­chen wie an­de­re Mäd­chen. Sie be­ant­wor­tet eine Frage mit einer Frage. Ob­wohl sie re­gel­mä­ßig im Straßencafé sitzt, ist die Mit­tags­pau­se an­stren­gen­der als Brie­fe­schrei­ben. Sie wird von allen Sei­ten be­ob­ach­tet. Sie spürt so­fort, dass sie Hände hat.

Der Rock ist nicht zu über­se­hen.

Haupt­sa­che, sie ist pünkt­lich.

Im Straßencafé gibt es keine Be­trun­ke­nen. Sie spielt mit der Hand­ta­sche. Sie kauft jetzt keine Zei­tung. Es ist schön, dass in jeder Mit­tags­pau­se eine Ka­ta­stro­phe pas­sie­ren könn­te. Sie könn­te sich sehr ver­spä­ten. Sie könn­te sich sehr ver­lie­ben. Wenn keine Be­die­nung kommt, geht sie hin­ein und be­zahlt den Kaf­fee an der Theke.

An der Schreib­ma­schi­ne hat sie viel Zeit an Ka­ta­stro­phen zu den­ken.

Ka­ta­stro­phe ist ihr Lieb­lings­wort.

Ohne das Lieb­lings­wort wäre die Mit­tags­pau­se lang­wei­lig.

Mit­tags­pau­se   (Wolf Won­d­rat­schek)



Sie sitzt im Straßencafé. Sie schlägt so­fort die Beine über­ein­an­der.

Sie hat wenig Zeit. Sie blät­tert in einem Mo­de­jour­nal. Die El­tern wis­sen, dass sie schön ist. Sie sehen es nicht gern. Zum Bei­spiel. Sie hat Freun­de. Trotz­dem sagt sie nicht, das ist mein bes­ter Freund, wenn sie zu Hause einen Freund vor­stellt. Zum Bei­spiel. Die Män­ner la­chen und schau­en her­über und stel­len sich ihr Ge­sicht ohne Son­nen­bril­le vor.

Das Straßencafé ist über­füllt. Sie weiß genau, was sie will. Auch am Ne­ben­tisch sitzt ein Mäd­chen mit Bei­nen. Sie hasst Lip­pen­stift. Sie be­stellt einen Kaf­fee. Manch­mal denkt sie an Filme und denkt an Lie­bes­fil­me. Alles muss schnell gehen. Frei­tags reicht die Zeit um einen Ko­gnak zum Kaf­fee zu be­stel­len. Aber frei­tags reg­net es oft.

Mit einer Son­nen­bril­le ist es ein­fa­cher, nicht rot zu wer­den. Mit Zi­ga­ret­ten wäre es noch ein­fa­cher. Sie be­dau­ert, dass sie keine Lun­gen­zü­ge kann.

Die Mit­tags­pau­se ist ein Spiel­zeug. Wenn sie nicht an­ge­spro­chen wird, stellt sie sich vor, wie es wäre, wenn sie ein Mann an­spre­chen würde. Sie würde la­chen. Sie würde eine aus­wei­chen­de Ant­wort geben. Viel­leicht würde sie sagen, dass der Stuhl neben ihr be­setzt sei. Ges­tern wurde sie an­ge­spro­chen. Ges­tern war der Stuhl frei. Ges­tern war sie froh, dass in der Mit­tags­pau­se alles sehr schnell geht.

Beim Abend­essen spre­chen die El­tern davon, dass sie auch ein­mal jung waren. Vater sagt, er meine es nur gut. Mut­ter sagt sogar, sie habe ei­gent­lich Angst. Sie ant­wor­tet, die Mit­tags­pau­se ist un­ge­fähr­lich.

Sie hat mitt­ler­wei­le ge­lernt sich zu ent­schei­den. Sie ist ein Mäd­chen wie an­de­re Mäd­chen. Sie be­ant­wor­tet eine Frage mit einer Frage. Ob­wohl sie re­gel­mä­ßig im Straßencafé sitzt, ist die Mit­tags­pau­se an­stren­gen­der als Brie­fe­schrei­ben. Sie wird von allen Sei­ten be­ob­ach­tet. Sie spürt so­fort, dass sie Hände hat.

Der Rock ist nicht zu über­se­hen.

Haupt­sa­che, sie ist pünkt­lich.

Im Straßencafé gibt es keine Be­trun­ke­nen. Sie spielt mit der Hand­ta­sche. Sie kauft jetzt keine Zei­tung. Es ist schön, dass in jeder Mit­tags­pau­se eine Ka­ta­stro­phe pas­sie­ren könn­te. Sie könn­te sich sehr ver­spä­ten. Sie könn­te sich sehr ver­lie­ben. Wenn keine Be­die­nung kommt, geht sie hin­ein und be­zahlt den Kaf­fee an der Theke.

An der Schreib­ma­schi­ne hat sie viel Zeit an Ka­ta­stro­phen zu den­ken.

Ka­ta­stro­phe ist ihr Lieb­lings­wort.

Ohne das Lieb­lings­wort wäre die Mit­tags­pau­se lang­wei­lig.

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Mein Bru­der hat grüne Haare   (Mo­ni­ka Seck-​Agthe)



Ges­tern hat sich mein Bru­der Jo­han­nes eine Haar­sträh­ne grün fär­ben las­sen. Die rest­li­chen Haare hat er mit Baby-​Öl ein­ge­schmiert, dann hat er sich ganz schwarz an­ge­zo­gen und sich so an den Kaf­fee­tisch ge­setzt. Mein Bru­der ist fünf­zehn und ich bin drei­zehn. Er sagt, er sei jetzt ein Punk. Wenn ich ihn frage, was das ist, weiß er das sel­ber nicht so genau. Je­den­falls gab’s einen ziem­li­chen Krach, als er so vor der ver­sam­mel­ten Fa­mi­lie er­schie­nen ist. Meine El­tern haben sich noch nicht mal so auf­ge­regt, aber dann war da noch meine Tante Vera. Und die ist fast vom Stuhl ge­fal­len, als der Jo­han­nes in dem Auf­zug rein­ge­kom­men ist.

„Bist du ei­gent­lich über­ge­schnappt? Ihr seid ja wohl heute alle total ver­rückt ge­wor­den!“, hat sie sich auf­ge­regt. Der Jo­han­nes ist ganz ruhig ge­blie­ben, hat ein­fach nichts ge­sagt und an­ge­fan­gen, Ku­chen zu essen. Das hat meine Tante na­tür­lich nur noch wü­ten­der ge­macht. Sie fing an zu krei­schen: „Kannst du nicht we­nigs­tens dei­nen Schna­bel auf­ma­chen, wenn man dich etwas fragt? Ich ver­steh euch aber auch nicht!“ Sie fun­kel­te meine El­tern an. „Lasst ihr die Kin­der denn alles ma­chen, was ihnen in den Kopf kommt?“

Mein Vater sagte bloß: „Der Junge ist doch alt genug! Der muss schon wis­sen, was er tut.“ – „Alt genug? Fünf­zehn Jahre ist der alt! Ein ganz grü­nes Bürsch­chen!“ Als Tante Vera das Wort grün sagte, muss­ten wir alle auf die grüne Haar­sträh­ne gu­cken und lach­ten. Nur eben Tante Vera, die muss­te nicht la­chen. Sie hat auch gar nicht ka­piert, dass wir über die Haare ge­lacht haben, son­dern dach­te natür-​lich, wir la­chen über sie, und är­ger­te sich schreck­lich. „Die wis­sen doch vor lau­ter Wohl­stand nicht mehr, was sie noch ma­chen sol­len! Wisst ihr ei­gent­lich, was wir mit fünf­zehn ge-​macht haben? Mit­ten im Krieg! Wir sind bei Bau­ern bet­teln ge­gan­gen! Um ein paar Rüben! Weil wir ge­hun­gert haben!“

„Lass das doch, Vera! Die Kin­der leben doch heute in einer ganz an­de­ren Welt als wir da­mals.“ Meine Mut­ter stand auf und räum­te die Kaf­fee­tas­sen weg. Aber Tante Vera war in Fahrt. „Im Luft­schutz­kel­ler haben wir ge­ses­sen! Und wuss­ten nicht, ob wir da je wie­der le­ben­dig raus­kom­men! Und ihr färbt euch die Haare grün! Und schmiert euch Öl auf den Kopf! Guckt mal lie­ber in eure Schul­bü­cher!“

„Hör doch bloß auf mit dei­nen blö­den Kriegs­ge­schich­ten. Die hän­gen mir ab­so­lut zum Halse her­aus, Mensch!“ Jo­han­nes tat so, als müss­te er auf sei­nen Tel­ler kot­zen. Dann sagte er noch: „Ver­such doch ein­fach mal ei­ni­ger­ma­ßen cool zu blei­ben, Vera.“

Das war zu viel für meine Tante. „Seit wann nennst du mich Vera? Bin ich ir­gend­ein Pi­pi­mäd­chen, das neben dir die Schul­bank drückt? Das ist doch un­er­hört! Blöde Kriegs­ge­schich­ten hat er ge­sagt! Euch geht’s doch ein­fach zu gut! Euch ist das doch gar nicht be­wusst, was das heißt, im Frie­den zu leben! Be­greift ihr über­haupt, was das ist?“

Jo­han­nes tat wei­ter ganz cool. Aber ich hab ge­sehn, dass seine Hände ganz schön zit­ter­ten. Dann ist er auf­ge­stan­den und hat ge­sagt: „Vom Frie­den hast du wohl sel­ber nicht allzu viel ka­piert. Sonst wür­dest du hier näm­lich nicht so einen Tanz ma­chen.“ Dann ging er ein­fach raus. Tante Vera krieg­te einen knall­ro­ten Kopf und fing an zu heu­len. Mein Vater holte die Ko­gnak­fla­sche aus dem Schrank. Meine Mut­ter sagte zu mir: „Du, geh mal für ’n Mo­ment in dein Zim­mer, ja?“ Mir war alles plötz­lich rich­tig pein­lich. Im Flur hab ich Tante Vera noch wei­ter heu­len ge­hört. Die konn­te kaum noch reden. „Wie wir da­mals ge­lit­ten haben! Was wir durch­ge­macht haben! Und da sagt die­ser Rotz­lüm­mel ,blöde Kriegs­ge­schich­ten‘!“

Ich bin rauf­ge­gan­gen. Aus Jo­han­nes’ Zim­mer dröhn­te knall­lau­te Musik. Mit einem Mal hab ich eine Rie­sen­wut ge­kriegt auf den, bin in sein Zim­mer ge­rannt und hab ge­brüllt: „Setz dir we­nigs­tens deine Kopf­hö­rer auf, wenn du schon so ’ne Scheiß­mu­sik hörst!“

Jo­han­nes hat mich groß an­ge­guckt und ge­sagt: „Jetzt fängst du auch noch an aus­zu­ras­ten! Was ist hier über­haupt los? Der to­ta­le Krieg, oder was?“

Mir war’s zu blöd, ich hab die Tür zu­ge­pfef­fert und mich in mein Zim­mer ver­zo­gen.

Abends im Bett muss­te ich noch mal über alles nach­den­ken. Auch über das, was Tante Vera ge­sagt hatte. Über die Luft­schutz­kel­ler und dass sie Angst ge­habt hat und so. Und dass sie meint, wir wür­den nicht be­grei­fen, was das ist: Frie­den. So rich­tig im Frie­den leben wir, glaub ich, auch gar nicht. Aber na­tür­lich auch nicht rich­tig im Krieg. Wir kön­nen schon eine Menge ma­chen, was die da­mals nicht konn­ten. Und vie­les, was die ma­chen und aus­hal­ten muss­ten, das pas­siert uns eben nicht, dass wir zum Bei­spiel hun­gern müs­sen oder Angst haben, ob wir den nächs­ten Tag noch er­le­ben. Da bin ich ei­gent­lich auch un­heim­lich froh dar­über. Aber trotz­dem: Bloß weil kein Krieg ist, ist noch lange kein rich­ti­ger Frie­den. Dazu ge­hört, glaub ich, noch eine ganze Menge mehr.

Mein Bru­der hat grüne Haare   (Mo­ni­ka Seck-​Agthe)



Ges­tern hat sich mein Bru­der Jo­han­nes eine Haar­sträh­ne grün fär­ben las­sen. Die rest­li­chen Haare hat er mit Baby-​Öl ein­ge­schmiert, dann hat er sich ganz schwarz an­ge­zo­gen und sich so an den Kaf­fee­tisch ge­setzt. Mein Bru­der ist fünf­zehn und ich bin drei­zehn. Er sagt, er sei jetzt ein Punk. Wenn ich ihn frage, was das ist, weiß er das sel­ber nicht so genau. Je­den­falls gab’s einen ziem­li­chen Krach, als er so vor der ver­sam­mel­ten Fa­mi­lie er­schie­nen ist. Meine El­tern haben sich noch nicht mal so auf­ge­regt, aber dann war da noch meine Tante Vera. Und die ist fast vom Stuhl ge­fal­len, als der Jo­han­nes in dem Auf­zug rein­ge­kom­men ist.

„Bist du ei­gent­lich über­ge­schnappt? Ihr seid ja wohl heute alle total ver­rückt ge­wor­den!“, hat sie sich auf­ge­regt. Der Jo­han­nes ist ganz ruhig ge­blie­ben, hat ein­fach nichts ge­sagt und an­ge­fan­gen, Ku­chen zu essen. Das hat meine Tante na­tür­lich nur noch wü­ten­der ge­macht. Sie fing an zu krei­schen: „Kannst du nicht we­nigs­tens dei­nen Schna­bel auf­ma­chen, wenn man dich etwas fragt? Ich ver­steh euch aber auch nicht!“ Sie fun­kel­te meine El­tern an. „Lasst ihr die Kin­der denn alles ma­chen, was ihnen in den Kopf kommt?“

Mein Vater sagte bloß: „Der Junge ist doch alt genug! Der muss schon wis­sen, was er tut.“ – „Alt genug? Fünf­zehn Jahre ist der alt! Ein ganz grü­nes Bürsch­chen!“ Als Tante Vera das Wort grün sagte, muss­ten wir alle auf die grüne Haar­sträh­ne gu­cken und lach­ten. Nur eben Tante Vera, die muss­te nicht la­chen. Sie hat auch gar nicht ka­piert, dass wir über die Haare ge­lacht haben, son­dern dach­te natür-​lich, wir la­chen über sie, und är­ger­te sich schreck­lich. „Die wis­sen doch vor lau­ter Wohl­stand nicht mehr, was sie noch ma­chen sol­len! Wisst ihr ei­gent­lich, was wir mit fünf­zehn ge-​macht haben? Mit­ten im Krieg! Wir sind bei Bau­ern bet­teln ge­gan­gen! Um ein paar Rüben! Weil wir ge­hun­gert haben!“

„Lass das doch, Vera! Die Kin­der leben doch heute in einer ganz an­de­ren Welt als wir da­mals.“ Meine Mut­ter stand auf und räum­te die Kaf­fee­tas­sen weg. Aber Tante Vera war in Fahrt. „Im Luft­schutz­kel­ler haben wir ge­ses­sen! Und wuss­ten nicht, ob wir da je wie­der le­ben­dig raus­kom­men! Und ihr färbt euch die Haare grün! Und schmiert euch Öl auf den Kopf! Guckt mal lie­ber in eure Schul­bü­cher!“

„Hör doch bloß auf mit dei­nen blö­den Kriegs­ge­schich­ten. Die hän­gen mir ab­so­lut zum Halse her­aus, Mensch!“ Jo­han­nes tat so, als müss­te er auf sei­nen Tel­ler kot­zen. Dann sagte er noch: „Ver­such doch ein­fach mal ei­ni­ger­ma­ßen cool zu blei­ben, Vera.“

Das war zu viel für meine Tante. „Seit wann nennst du mich Vera? Bin ich ir­gend­ein Pi­pi­mäd­chen, das neben dir die Schul­bank drückt? Das ist doch un­er­hört! Blöde Kriegs­ge­schich­ten hat er ge­sagt! Euch geht’s doch ein­fach zu gut! Euch ist das doch gar nicht be­wusst, was das heißt, im Frie­den zu leben! Be­greift ihr über­haupt, was das ist?“

Jo­han­nes tat wei­ter ganz cool. Aber ich hab ge­sehn, dass seine Hände ganz schön zit­ter­ten. Dann ist er auf­ge­stan­den und hat ge­sagt: „Vom Frie­den hast du wohl sel­ber nicht allzu viel ka­piert. Sonst wür­dest du hier näm­lich nicht so einen Tanz ma­chen.“ Dann ging er ein­fach raus. Tante Vera krieg­te einen knall­ro­ten Kopf und fing an zu heu­len. Mein Vater holte die Ko­gnak­fla­sche aus dem Schrank. Meine Mut­ter sagte zu mir: „Du, geh mal für ’n Mo­ment in dein Zim­mer, ja?“ Mir war alles plötz­lich rich­tig pein­lich. Im Flur hab ich Tante Vera noch wei­ter heu­len ge­hört. Die konn­te kaum noch reden. „Wie wir da­mals ge­lit­ten haben! Was wir durch­ge­macht haben! Und da sagt die­ser Rotz­lüm­mel ,blöde Kriegs­ge­schich­ten‘!“

Ich bin rauf­ge­gan­gen. Aus Jo­han­nes’ Zim­mer dröhn­te knall­lau­te Musik. Mit einem Mal hab ich eine Rie­sen­wut ge­kriegt auf den, bin in sein Zim­mer ge­rannt und hab ge­brüllt: „Setz dir we­nigs­tens deine Kopf­hö­rer auf, wenn du schon so ’ne Scheiß­mu­sik hörst!“

Jo­han­nes hat mich groß an­ge­guckt und ge­sagt: „Jetzt fängst du auch noch an aus­zu­ras­ten! Was ist hier über­haupt los? Der to­ta­le Krieg, oder was?“

Mir war’s zu blöd, ich hab die Tür zu­ge­pfef­fert und mich in mein Zim­mer ver­zo­gen.

Abends im Bett muss­te ich noch mal über alles nach­den­ken. Auch über das, was Tante Vera ge­sagt hatte. Über die Luft­schutz­kel­ler und dass sie Angst ge­habt hat und so. Und dass sie meint, wir wür­den nicht be­grei­fen, was das ist: Frie­den. So rich­tig im Frie­den leben wir, glaub ich, auch gar nicht. Aber na­tür­lich auch nicht rich­tig im Krieg. Wir kön­nen schon eine Menge ma­chen, was die da­mals nicht konn­ten. Und vie­les, was die ma­chen und aus­hal­ten muss­ten, das pas­siert uns eben nicht, dass wir zum Bei­spiel hun­gern müs­sen oder Angst haben, ob wir den nächs­ten Tag noch er­le­ben. Da bin ich ei­gent­lich auch un­heim­lich froh dar­über. Aber trotz­dem: Bloß weil kein Krieg ist, ist noch lange kein rich­ti­ger Frie­den. Dazu ge­hört, glaub ich, noch eine ganze Menge mehr.

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Das Fenster-​Theater   (Ilse Ai­chin­ger)



Die Frau lehn­te am Fens­ter und sah hin­über. Der Wind trieb in leich­ten Stö­ßen vom Fluss her­auf und brach­te nichts Neues. Die Frau hatte den star­ren Blick neu­gie­ri­ger Leute, die un­er­sätt­lich sind. Es hatte ihr noch nie­mand den Ge­fal­len getan, vor ihrem Haus nie­der­ge­fah­ren zu wer­den. Au­ßer­dem wohn­te sie im vor­letz­ten Stock, die Stra­ße lag zu tief unten. Der Lärm rausch­te nur mehr leicht her­auf. Alles lag zu tief unten. Als sie sich eben vom Fens­ter ab­wen­den woll­te, be­merk­te sie, dass der Alte ge­gen­über Licht an­ge­dreht hatte. Da es noch ganz hell war, blieb die­ses Licht für sich und mach­te den merk­wür­di­gen Ein­druck, den auf­flam­men­de Stra­ßen­la­ter­nen unter der Sonne ma­chen. Als hätte einer an sei­nen Fens­tern die Ker­zen an­ge­steckt, noch ehe die Pro­zes­si­on die Kir­che ver­las­sen hat. Die Frau blieb am Fens­ter.

Der Alte öff­ne­te und nick­te her­über. Meint er mich?, dach­te die Frau. Die Woh­nung über ihr stand leer, und un­ter­halb lag eine Werk­statt, die um diese Zeit schon ge­schlos­sen war. Sie be­weg­te leicht den Kopf. Der Alte nick­te wie­der. Er griff sich an die Stir­ne, ent­deck­te, dass er kei­nen Hut auf­hat­te, und ver­schwand im In­nern des Zim­mers. Gleich dar­auf kam er in Hut und Man­tel wie­der. Er zog den Hut und lä­chel­te. Dann nahm er ein wei­ßes Tuch aus der Ta­sche und be­gann zu win­ken. Erst leicht und dann immer eif­ri­ger. Er hing über die Brüs­tung, dass man Angst bekam, er würde vorn­über­fal­len. Die Frau trat einen Schritt zu­rück, aber das schien ihn nur zu be­stär­ken. Er ließ das Tuch fal­len, löste sei­nen Schal vom Hals – einen gro­ßen bun­ten Schal – und ließ ihn aus dem Fens­ter wehen. Dazu lä­chel­te er. Und als sie noch einen wei­te­ren Schritt zu­rück­trat, warf er den Hut mit einer hef­ti­gen Be­we­gung ab und wand den Schal wie einen Tur­ban um sei­nen Kopf. Dann kreuz­te er die Arme über der Brust und ver­neig­te sich. Sooft er auf­sah, kniff er das linke Auge zu, als herr­sche zwi­schen ihnen ein ge­hei­mes Ein­ver­ständ­nis. Das be­rei­te­te ihr so lange Ver­gnü­gen, bis sie plötz­lich nur mehr seine Beine in dün­nen, ge­flick­ten Samt­ho­sen in die Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf. Als sein Ge­sicht ge­rö­tet, er­hitzt und freund­lich wie­der auf­tauch­te, hatte sie schon die Po­li­zei ver­stän­digt.

Und wäh­rend er, in ein Lein­tuch ge­hüllt, ab­wech­selnd an bei­den Fens­tern er­schien, un­ter­schied sie schon drei Gas­sen wei­ter über dem Ge­klin­gel der Stra­ßen­bah­nen und dem ge­dämpf­ten Lärm der Stadt das Hupen des Über­fall­au­tos. Denn ihre Er­klä­rung hatte nicht sehr klar und ihre Stim­me er­regt ge­klun­gen. Der alte Mann lach­te jetzt, so­dass sich sein Ge­sicht in tiefe Fal­ten legte, streif­te dann mit einer vagen Ge­bär­de dar­über, wurde ernst, schien das La­chen eine Se­kun­de lang in der hoh­len Hand zu hal­ten und warf es dann hin­über. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, ge­lang es der Frau, sich von sei­nem An­blick los­zu­rei­ßen. Sie kam atem­los unten an. Eine Men­schen­men­ge hatte sich um den Po­li­zei­wa­gen ge­sam­melt. Die Po­li­zis­ten waren ab­ge­sprun­gen und die Menge kam hin­ter ihnen und der Frau her. So­bald man die Leute zu ver­scheu­chen such­te, er­klär­ten sie ein­stim­mig in die­sem Hause zu woh­nen. Ei­ni­ge davon kamen bis zum letz­ten Stock mit. Von den Stu­fen be­ob­ach­te­ten sie, wie die Män­ner, nach­dem ihr Klop­fen ver­geb­lich blieb und die Glo­cke allem An­schein nach nicht funk­ti­o­nier­te, die Tür auf­bra­chen. Sie ar­bei­te­ten schnell und mit einer Si­cher­heit, von der jeder Ein­bre­cher ler­nen konn­te. Auch in dem Vor­raum, des­sen Fens­ter auf den Hof sahen, zö­ger­ten sie nicht eine Se­kun­de. Zwei von ihnen zogen die Stie­fel aus und schli­chen um die Ecke. Es war in­zwi­schen fins­ter ge­wor­den. Sie stie­ßen an einen Klei­der­stän­der, ge­wahr­ten den Licht­schein am Ende des schma­len Gan­ges und gin­gen ihm nach. Die Frau schlich hin­ter ihnen her.

Als die Tür auf­flog, stand der alte Mann, mit dem Rü­cken zu ihnen ge­wandt, noch immer am Fens­ter. Er hielt ein gro­ßes wei­ßes Kis­sen auf dem Kopf, das er immer wie­der ab­nahm, als be­deu­te­te er je­man­dem, dass er schla­fen wolle. Den Tep­pich, den er vom Boden ge­nom­men hatte, trug er um die Schul­tern. Da er schwer­hö­rig war, wand­te er sich auch nicht um, als die Män­ner schon knapp hin­ter ihm stan­den und die Frau über ihn hin­weg in ihr ei­ge­nes fins­te­res Fens­ter sah. Die Werk­statt un­ter­halb war, wie sie an­ge­nom­men hatte, ge­schlos­sen. Aber in die Woh­nung ober­halb muss­te eine neue Par­tei ein­ge­zo­gen sein. An eines der er­leuch­te­ten Fens­ter war ein Git­ter­bett ge­scho­ben, in dem auf­recht ein klei­ner Knabe stand. Auch er trug sein Kis­sen auf dem Kopf und die Bett­de­cke um die Schul­tern. Er sprang und wink­te her­über und kräh­te vor Jubel. Er lach­te, strich mit der Hand über das Ge­sicht, wurde ernst und schien das La­chen eine Se­kun­de lang in der hoh­len Hand zu hal­ten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wach­leu­ten ins Ge­sicht.

Das Fenster-​Theater   (Ilse Ai­chin­ger)



Die Frau lehn­te am Fens­ter und sah hin­über. Der Wind trieb in leich­ten Stö­ßen vom Fluss her­auf und brach­te nichts Neues. Die Frau hatte den star­ren Blick neu­gie­ri­ger Leute, die un­er­sätt­lich sind. Es hatte ihr noch nie­mand den Ge­fal­len getan, vor ihrem Haus nie­der­ge­fah­ren zu wer­den. Au­ßer­dem wohn­te sie im vor­letz­ten Stock, die Stra­ße lag zu tief unten. Der Lärm rausch­te nur mehr leicht her­auf. Alles lag zu tief unten. Als sie sich eben vom Fens­ter ab­wen­den woll­te, be­merk­te sie, dass der Alte ge­gen­über Licht an­ge­dreht hatte. Da es noch ganz hell war, blieb die­ses Licht für sich und mach­te den merk­wür­di­gen Ein­druck, den auf­flam­men­de Stra­ßen­la­ter­nen unter der Sonne ma­chen. Als hätte einer an sei­nen Fens­tern die Ker­zen an­ge­steckt, noch ehe die Pro­zes­si­on die Kir­che ver­las­sen hat. Die Frau blieb am Fens­ter.

Der Alte öff­ne­te und nick­te her­über. Meint er mich?, dach­te die Frau. Die Woh­nung über ihr stand leer, und un­ter­halb lag eine Werk­statt, die um diese Zeit schon ge­schlos­sen war. Sie be­weg­te leicht den Kopf. Der Alte nick­te wie­der. Er griff sich an die Stir­ne, ent­deck­te, dass er kei­nen Hut auf­hat­te, und ver­schwand im In­nern des Zim­mers. Gleich dar­auf kam er in Hut und Man­tel wie­der. Er zog den Hut und lä­chel­te. Dann nahm er ein wei­ßes Tuch aus der Ta­sche und be­gann zu win­ken. Erst leicht und dann immer eif­ri­ger. Er hing über die Brüs­tung, dass man Angst bekam, er würde vorn­über­fal­len. Die Frau trat einen Schritt zu­rück, aber das schien ihn nur zu be­stär­ken. Er ließ das Tuch fal­len, löste sei­nen Schal vom Hals – einen gro­ßen bun­ten Schal – und ließ ihn aus dem Fens­ter wehen. Dazu lä­chel­te er. Und als sie noch einen wei­te­ren Schritt zu­rück­trat, warf er den Hut mit einer hef­ti­gen Be­we­gung ab und wand den Schal wie einen Tur­ban um sei­nen Kopf. Dann kreuz­te er die Arme über der Brust und ver­neig­te sich. Sooft er auf­sah, kniff er das linke Auge zu, als herr­sche zwi­schen ihnen ein ge­hei­mes Ein­ver­ständ­nis. Das be­rei­te­te ihr so lange Ver­gnü­gen, bis sie plötz­lich nur mehr seine Beine in dün­nen, ge­flick­ten Samt­ho­sen in die Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf. Als sein Ge­sicht ge­rö­tet, er­hitzt und freund­lich wie­der auf­tauch­te, hatte sie schon die Po­li­zei ver­stän­digt.

Und wäh­rend er, in ein Lein­tuch ge­hüllt, ab­wech­selnd an bei­den Fens­tern er­schien, un­ter­schied sie schon drei Gas­sen wei­ter über dem Ge­klin­gel der Stra­ßen­bah­nen und dem ge­dämpf­ten Lärm der Stadt das Hupen des Über­fall­au­tos. Denn ihre Er­klä­rung hatte nicht sehr klar und ihre Stim­me er­regt ge­klun­gen. Der alte Mann lach­te jetzt, so­dass sich sein Ge­sicht in tiefe Fal­ten legte, streif­te dann mit einer vagen Ge­bär­de dar­über, wurde ernst, schien das La­chen eine Se­kun­de lang in der hoh­len Hand zu hal­ten und warf es dann hin­über. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, ge­lang es der Frau, sich von sei­nem An­blick los­zu­rei­ßen. Sie kam atem­los unten an. Eine Men­schen­men­ge hatte sich um den Po­li­zei­wa­gen ge­sam­melt. Die Po­li­zis­ten waren ab­ge­sprun­gen und die Menge kam hin­ter ihnen und der Frau her. So­bald man die Leute zu ver­scheu­chen such­te, er­klär­ten sie ein­stim­mig in die­sem Hause zu woh­nen. Ei­ni­ge davon kamen bis zum letz­ten Stock mit. Von den Stu­fen be­ob­ach­te­ten sie, wie die Män­ner, nach­dem ihr Klop­fen ver­geb­lich blieb und die Glo­cke allem An­schein nach nicht funk­ti­o­nier­te, die Tür auf­bra­chen. Sie ar­bei­te­ten schnell und mit einer Si­cher­heit, von der jeder Ein­bre­cher ler­nen konn­te. Auch in dem Vor­raum, des­sen Fens­ter auf den Hof sahen, zö­ger­ten sie nicht eine Se­kun­de. Zwei von ihnen zogen die Stie­fel aus und schli­chen um die Ecke. Es war in­zwi­schen fins­ter ge­wor­den. Sie stie­ßen an einen Klei­der­stän­der, ge­wahr­ten den Licht­schein am Ende des schma­len Gan­ges und gin­gen ihm nach. Die Frau schlich hin­ter ihnen her.

Als die Tür auf­flog, stand der alte Mann, mit dem Rü­cken zu ihnen ge­wandt, noch immer am Fens­ter. Er hielt ein gro­ßes wei­ßes Kis­sen auf dem Kopf, das er immer wie­der ab­nahm, als be­deu­te­te er je­man­dem, dass er schla­fen wolle. Den Tep­pich, den er vom Boden ge­nom­men hatte, trug er um die Schul­tern. Da er schwer­hö­rig war, wand­te er sich auch nicht um, als die Män­ner schon knapp hin­ter ihm stan­den und die Frau über ihn hin­weg in ihr ei­ge­nes fins­te­res Fens­ter sah. Die Werk­statt un­ter­halb war, wie sie an­ge­nom­men hatte, ge­schlos­sen. Aber in die Woh­nung ober­halb muss­te eine neue Par­tei ein­ge­zo­gen sein. An eines der er­leuch­te­ten Fens­ter war ein Git­ter­bett ge­scho­ben, in dem auf­recht ein klei­ner Knabe stand. Auch er trug sein Kis­sen auf dem Kopf und die Bett­de­cke um die Schul­tern. Er sprang und wink­te her­über und kräh­te vor Jubel. Er lach­te, strich mit der Hand über das Ge­sicht, wurde ernst und schien das La­chen eine Se­kun­de lang in der hoh­len Hand zu hal­ten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wach­leu­ten ins Ge­sicht.






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